Kognitive Beeinträchtigung: Bildung und Erziehung: Erfahrungsberichte

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Kinder­garten und Schule

Regel- oder Sonder­kin­der­garten: Für Moritz sind Schutz­räume wichtig

Quelle: Nachrichten der Lebens­hilfe Esslingen e.V., Ausgabe 01/2017, Seite 9 (zur Lebens­hilfe Esslingen)
Text: Sven Seuffert-Uzler

Was ist schon das wirkliche Leben?

Stefanie Flamm schreibt in der Wochen­zeitung Die Zeit, dass Schutz­räume für Menschen mit Behin­derung obsolet sind, „seitdem die deutsche Gesell­schaft in der Lage ist, ihren Behin­derten auf Augenhöhe zu begegnen“. (Die ZEIT vom 8. Juni 2017)

Ich bezweifle, dass wir das wirklich sind.

Vor drei Jahren hatten wir Moritz in einem Montessori-Kinder­garten angemeldet. Unsere Hoffnung war, dass er am Vorbild der anderen wächst und – natürlich – wollten wir damit auch unseren gesell­schafts­po­li­ti­schen Auftrag erfüllen und Inklusion vorleben. Aller­dings haben wir dabei die Rechnung ohne Moritz gemacht, denn er lag in seiner geistigen und emotio­nalen Entwicklung so weit hinter den anderen zurück, dass er gar nicht in der Lage war, sich an ihnen zu orientieren.

Das heißt nicht, dass er sich nicht wohlfühlte. Ganz im Gegenteil. Er war bei den anderen Kindern sehr beliebt, sie spielten gerne Mutter und Baby mit ihm, wobei er natürlich immer das Baby war und bemuttert wurde, oder sie fuhren ihn im Spiel­wagen umher. Aber ich finde, das hat nichts mit Inklusion und schon gar nichts mit Augenhöhe zu tun, denn wir haben Moritz nicht in den Regel­kin­der­garten gegeben, damit die anderen Kinder dank ihm ihre Sozial­kom­pe­tenzen erweitern oder einen niedlichen außer­ge­wöhn­lichen Spiel­ge­fährten bekommen.

Und selbst­ver­ständlich ist Moritz den Erzie­he­rinnen schnell ans Herz gewachsen. Aber auf die Idee, ihr pädago­gi­sches Konzept zu verändern, sind sie deswegen nicht gekommen. Damit wir uns nicht falsch verstehen, natürlich haben sie Moritz mehr Zeit gegeben und ihn mal behutsam, mal fordernd an bestimmte pädago­gische Ziele heran­ge­führt, aber sie haben ihr Konzept nicht verändert, sie haben es lediglich „verlangsamt“ – behin­der­ten­ge­recht – gemacht. Ich finde nicht, dass das etwas mit Augenhöhe zu tun hat. Nach einem Jahr Regel­kin­der­garten sind wir mit Moritz in einen Kinder­garten für geistig behin­derte Kinder gewechselt.

Die auf geistig behin­derte profes­sio­na­li­sierte, inten­sivere Betreuung und die wesentlich kleinere Gruppen­größe tun ihm und uns gut.
Dort kann er auch mal den halben Tag mit einer Schaufel an der Wand entlang klopfen und die Erzie­he­rinnen freuen sich über seine „Entde­ckungstour“ – im Montessori-Kinder­garten hätten sie Moritz behutsam das Schlag­werkzeug aus der Hand genommen und ihm eine andere, „sinnvollere“ Spiel­mög­lichkeit angeboten.

Klar ist das ein Schutzraum, der mit dem „wirklichen Leben“ weniger Berüh­rungs­punkte hat. Aber was ist schon das wirkliche Leben? Der Schutzraum Sonder­kin­der­garten ist nicht weniger real und wenn Moritz darin mehr so sein kann wie er ist, dann brauchen wir nicht weniger, sondern mehr dieser Schutzräume.

Schwierige Suche nach Kinder­garten und Schule

Quelle: Nachrichten der Lebens­hilfe Esslingen e.V., Ausgabe 01/2017, Seite 10 (zur Lebens­hilfe Esslingen)
Text: Bettina Polanski

Nicht überall willkommen

Als unser Sohn knapp drei Jahre alt war, haben wir beim privaten Verein „Arche Nora“, der Kinder­be­treuung für Kinder unter drei Jahren anbietet, angefragt, ob sie bereit seien, ein Kind mit Down-Syndrom aufzu­nehmen. Das war kein Problem. Er hatte dort viel Spaß und war sehr willkommen. Mit knapp vier Jahren fragten wir im benach­barten christ­lichen Kinder­garten nach. Die Leiterin zeigte leider keinerlei Interesse und flüchtete sich in eine Ausrede nach der anderen. Da war uns klar, dass dieser Kinder­garten der falsche ist. Bei zwei anderen Kinder­gärten, aller­dings weiter entfernt, waren wir willkommen. Der Vorteil in diesem Kinder­garten ist, dass schon mehrere Erzie­he­rinnen eine Zusatz­aus­bildung hatten, sodass sie gleich­zeitig auch als Integra­ti­ons­kraft arbeiten konnten. Unser Sohn konnte so sehr intensiv von der zustän­digen Mitar­bei­terin betreut werden und es kam keine „Fremde“ von außen. So lief die Kinder­gar­tenzeit im Helme-Heine-Kinderhaus weitgehend harmo­nisch ab. Leider gab es keinen privaten Kontakt mit Kinder­gar­ten­kindern in dieser Zeit.

Die passende Schule zu finden erwies sich als etwas schwieriger.

Wir als Eltern besuchten viele Infor­ma­ti­ons­ver­an­stal­tungen und nutzten auch Vereine und Selbst­hil­fe­gruppen, in denen wir aktiv sind, um an Infor­ma­tionen zu kommen. Die Kloster­hof­schule in Ostfildern-Nellingen nimmt schon seit über 16 Jahren behin­derte Kinder in einer Außen­klasse auf und das schien uns der geeignete Mittelweg zwischen SBBZ (Sonder­päd­ago­gi­sches Bildungs- und Beratungs­zentrum) und Einzel­in­te­gration. Dies haben wir nicht bereut. Unser Sohn hatte eine perfekte Grund­schulzeit mit unfassbar engagierten Lehre­rinnen.
Auch Geburts­tags­ein­la­dungen und Spiel­nach­mittage bei nicht-behin­derten Kindern gab es.
Im September wird unser Sohn in die weiter­füh­rende Schule kommen. Wir haben das Glück, dass die komplette Außen­klasse von der Kloster­hof­schule in die Erich-Kästner-Schule in Nellingen wechseln kann.
Wie es wird, werden wir sehen. Wir sind jeden­falls sehr gespannt.

Dank der Außen­klasse erleben Behin­derte und Nicht­be­hin­derte Schule miteinander

Quelle: Nachrichten der Lebens­hilfe Esslingen e.V., Ausgabe 01/2017, Seite 11 (zur Lebens­hilfe Esslingen)
Text: Kai Borheier

Alle Betei­ligten gaben ihr Bestes

Die Schul­an­meldung für unseren Sohn, der das Down-Syndrom hat, stand an.

Wir wollten für Paul das Umfeld einer Regel­schule mit der Berück­sich­tigung der Bedürf­nisse eines behin­derten Menschen. Deshalb haben wir uns für die „koope­rative Organi­sa­ti­onsform“ (Außen­klasse) entschieden. Das heißt, unser Sohn besuchte die Kloster­hof­schule (Regel­schule) in Ostfildern-Nellingen, war aber Schüler des SBBZ (Sonder­päd­ago­gi­sches Bildungs- und Beratungs­zentrum) der Rohrä­cker­schule für Geistigbehinderte.

In unserer „koope­ra­tiven Organi­sa­ti­onsform“ hatten wir einen guten Betreu­ungs­schlüssel, da zwei Sonder­schul­päd­ago­ginnen zusammen mit einer Regel­schul­leh­rerin unter­rich­teten. Die Erzähl­runde, Musik, Sport und Werkstatt­un­ter­richt fanden meist gemeinsam statt, während andere Fächer getrennt unter­richtet wurden. Schüle­rinnen und Schüler des SBBZ haben einen anderen Bildungsplan als die Regel­schüler. Das Erlangen von Alltags­kom­pe­tenzen, wie Einkaufen und Kochen ist, z.B. nur im Bildungsplan des SBBZ vorge­sehen.
Stolz ging Paul einkaufen und bezahlte selbst­ständig an der Kasse. Natürlich wurde das gemeinsam gekochte Essen gerne zusammen verspeist. Behin­derte und Nicht­be­hin­derte erleben Schule mitein­ander.
In der Kloster­hof­schule können alle Kinder täglich auf dem Pausenhof, bei gemein­samen Projekten und AGs viel vonein­ander lernen. Wir haben Glück gehabt, da lange vor uns Eltern und Lehre­rinnen und Lehrer dafür gekämpft haben, dass solch eine inklusive Kultur wachsen konnte und wir freuen uns, dass es zukünftig für unseren Sohn in der fünften Klasse an der Erich-Kästner-Schule in Nellingen weiter gehen wird.
Das ist nicht selbst­ver­ständlich. Es gibt äußere Zwänge unter denen alle zu leiden haben. Das Staat­liche Schulamt kann z. B. die benötigten Lehrer­stellen oft nicht besetzen. Bei allen Schwie­rig­keiten haben wir aber immer erlebt, dass alle Betei­ligten ihr Bestes gaben, um die förder­lichste Lösung zu finden. Wir jeden­falls sind uns einig darüber, dass wir den Weg immer wieder genauso gehen würden.

Plädoyer für die freie Wahl zwischen Regel- und Sonderschule

Quelle: Nachrichten der Lebens­hilfe Esslingen e.V., Ausgabe 01/2017, Seite 12 (zur Lebens­hilfe Esslingen)
Text: Cecile Hammer

Die Entscheidung für die Sonder­schule war richtig

Unser Sohn, Hendrik, 11 Jahre alt, besucht die Rohrä­cker­schule mit Förder­schwer­punkt „Geistige Entwicklung“. Es wäre eine Lüge zu behaupten, dass die Einschulung unseres Kindes in die Rohrä­cker­schule eine souveräne Entscheidung war. Hendrik gehört zu den Kindern, deren Behin­derung auf den ersten Blick nicht sichtbar ist. Die Diagnosen sind erst nach langen Jahren von Unter­su­chungen, Therapien, Hoffnungen und Frust gekommen. Zum Zeitpunkt von Hendriks Einschulung waren wir noch mit der Akzeptanz einer frisch diagnos­ti­zierten Chromo­so­men­störung konfron­tiert. Ich muss zugeben, dass es ein großes Dilemma war, uns für eine Schule für Kinder mit geistiger Behin­derung zu entscheiden.

Inklu­si­ons­er­fahrung in der Kinder­gar­tenzeit hatten wir gesammelt und deren Pros und Contras erlebt. Unser Wunsch, dass Hendrik ein so „normales Schul­leben“ wie möglich führt, war zwar stark, uns wurde jedoch zunehmend bewusst, dass seine Einschulung in einem Regel­muster eine zu große Heraus­for­derung für die Familie und das Schul­umfeld darstellen würde. Die damaligen Gespräche mit den Sonder­päd­agogen und Thera­peuten waren eine wertvolle Unter­stützung. Die Zweifel verschwanden schnell. Die Entscheidung war und bleibt die Richtige. Die Sonder­schule bietet eine auf Maß geschnei­derte Pädagogik mit einem indivi­du­ellen Förderplan. Die engagierten und motivierten Sonder­päd­agogen erwecken den Eindruck, dass ihre Berufung zum Beruf geworden ist. Hendrik wird nicht nur pädago­gisch gefördert, sondern verwirk­licht sich auch in seiner sozialen Umgebung: Für ihn bedeutet die Schule, Freund­schaften zu schließen und soziale Kompe­tenzen zu entwi­ckeln. Dort wird er vorbe­reitet auf ein selbst­be­stimmtes und weitgehend selbstän­diges Leben.

Aufgrund der UN-Behin­der­ten­rechts­kon­vention wird immer wieder disku­tiert, ob Sonder­schulen als unzulässig zugunsten der Inklusion gelten sollten. Das ist aber nicht richtig! Inklusion und Teilhabe von behin­derten Menschen in unserer Gesell­schaft sind ein riesiger ethischer Fortschritt, die freie Auswahl zwischen Einschulung in einer Regel­schule oder einer Sonder­schule muss aber weiterhin bestehen bleiben.

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